Tuesday 4 June 2013

MADAGASCAR MON AMOUR



“Umzug” nach Australien, Donnerstag, 30.4.1970


“Scheiße !” ruft Max und klettert aus dem gähnenden Loch im Gehsteig, in dem er soeben verschwand. Es ist unser erster Abend in Tananarive und unser erster Erkundungsgang durch die Hauptstadt Madagaskars. Die Straße ist schwach beleuchtet. Um uns braust der abendliche Verkehr. Braune Menschen laufen lachend vorbei. Es riecht nach Holzkohlenfeuern, nach Hühnerkot und Stroh. Warm und feucht hängt die Luft zwischen den mehrstöckigen Häuserreihen.

Die Wirklichkeit ist noch unwirklich. Im Geiste sind wir noch in Johannesburg – tausend Meilen südwestlich, mitten in Südafrika. Das Zeitalter der Düsenflugzeuge läßt die Entfernungen schrumpfen. Neue Eindrücke folgen einander im Zeitraffertempo.


    Reiseroute durch Madagaskar
                                              Max im Zoo

Am Jan Smuts Airport tranken wir heute morgen noch unser letztes südafrikanisches Bier. In der Boing 737 der “Air Madagascar” preßte uns im Aufstieg die Beschleunigung gegen die Sitze. Dann die Stimme der Stewardess: “Meine Damen und Herren, wir begrüßen Sie auf unserem Flug von Johannesburg nach Tananarive.” Das sagt sie übrigens auf Französisch. Unser Englisch wird uns in Madagaskar nicht viel nutzen. Zum Glück lernte ich in Egypten etwas Französisch.

 Schon waren die Halden der Goldbergwerke unter uns verschwunden. Gefrühstückt wurde über dem Ost-Transvaal. Ein letzter Blick auf Swasiland. Abschiedsgedanken: Esther Shongwe und Esther Dhlamini, eine der Nebenfrauen von König Sobuza. Unter der Kleidung trug sie eine rote Kordel, die sie nie ablegte. War es ein afrikanischer Keuschheitsgürtel ? Afrikanische Musik. Liebe in Blechhütten. Mondscheinparties im Swimmingpool. Krause Haare unter Nylonperücken. Unvergeßliches Afrika! Und Südafrika ? For Whites only ! Wir werden es bald aus der Erinnnerung streichen.

Zwischenlandung in Laurenco Marques (Maputo), Hauptstadt des portugiesischen Mozambique. Auch hier wandern die Gedanken noch einmal zu den Hütten der Eingeborenenviertel. Ob die Tochter des Zuluhäuptlings wohl noch ab und zu an mich denkt ? Nach einer Stunde sind wir wieder in der Luft. Azurblau leuchtet der Kanal von Mozambique zwischen den Wolkenfetzen, die unter dem Flugzeugflügel zurückschwimmen. Dann ein gelber Streifen, Sand und weiße Kämme sich brechender Wellen. Dahinter Buschlandschaft, Schlangenlinien ausgetrockneter Flußtäler. An der Küste ein schäbiges Nest – Marondave, Madagaskar. Steigendes Gelände, grün und fruchtbar. In der Ferne türmen sich Berge auf. Tananarive liegt auf dem zentralen Hochland. Nach vier Flugstunden setzt die Maschine auf dem Rollfeld auf. Wir sind am Ziel unserer Träume. “Salama tubko” sage ich zu der hübschen Polizistin, die den Stempel in den Paß drückt, “Guten Tag” auf deutsch. Auf Madagaskar spricht man als Hauptsprache Malegassisch, eine Sprache polynesischer Herkunft, von den ersten Missionaren schriftfähig gemacht. Aus dem asiatischen Raum kamen die Bewohner der Insel einst in ihren Auslegerbooten. Viele Malegassen beherrschen Französisch ebenso gut wie ihre Muttersprache. Ein halbes Jahrhundert französischer Erziehung hat seine Spuren hinterlassen.

Im Hotel “Smokey Joe” am Bahnhof wartet ein breites Bett auf mich. Auch Juliette hat ein Jahr lang auf mich gewartet. Max kümmert sich um Colette, ihre Schwester.


 

Colette und Max            Juliette und Manfred

Tananarive, 1.5.1970, Freitag

Tag der Arbeit in Tananarive. Morgens schon sammeln sich auf dem Bahnhofsvorplatz die Menschen. Sie tragen Fahnen, Kostüme und Spruchbänder in rot. Überall ist Musik: Guitarren, Trommeln, Flöten und Zieharmonikas. Dazwischen Geigen. Manchmal klingt es nach Polynesien, manchmal nach Appenzeller Ländler. In der Rue de Independence (Straße der Unabhängigkeit) drängen sich die Menschen. Es ist eine breite Promenade, auf beiden Seiten von Arkaden begrenzt. Heute ist nicht nur der 1. Mai, sondern auch Markttag. Es ist einer der buntesten und lebhaftesten Märkte, die ich kenne. Auf beiden Seiten der Promenade ziehen sich die Stände hin, oder die Verkäufer hocken einfach auf Strohmatten. Man handelt, gestikuliert und lacht und schaut nebenbei dem Demonstrationszug zu. Wieviel Leben, wieviel Stimmung ! Überall offene und lachende Gesichter, die Gelassenheit von Menschen, die Zeit zu haben scheinen. Männer und Frauen tragen Strohhüte und Lambas, Baumwolltücher, die um die Schultern geworfen werden. Mütter säugen auf der Straße ihre Kinder. Eine Marktfrau sammelt einer anderen die Mitesser aus den schwarzen Locken. Auf einer Holzkiste gestikuliert ein Propagandist. Wofür ? Vielleicht für eine Flasche Bier. Man kann sich an den Mädchen nicht sattsehen: Nußbraune Samthaut. Ovale Malayenaugen unter schwarzem Glanzhaar. Oft sieht man Zöpfe. Es sind schlanke Gestalten, und jede Bewegung hat Eleganz.

Im Hochland von Madagaskar leben die Hova. Sie sind am Hellsten, sind der staatstragende Stamm, einer der über zwanzig. Ihre Könige eroberten einst mit Hilfe europäischer Berater den größten Teil der Insel. Die Stämme der Sakalava, Baro und Antandroy waren die mächtigsten Gegner.

Mit welch unafrikanischer Disziplin vollzieht sich die Mai-Demonstration ! Keine überschwenglichen Gefühlsausbrüche. Untätig stehen Polizisten herum. Niemand drängelt. An strategisch wichtigen Punkten sind Soldaten in Kampfanzügen postiert. Aber in den Maschinenpistolen fehlen die Magazine. Vielleicht ist der erste Mai nur eine Formsache; denn von Sozialismus halten die wenigen Reichen des Landes nicht viel.

Tananarive (Antananarivo)                  Der Präsident

Abends schimpft vor dem Hotel ein Betrunkener auf den Präsidenten. Eine Frau ohrfeigt ihn. Unsere Mädchen geraten in Extase, schimpfen “Kommunist”. Sie klettern auf die Fensterbank, spucken hinab, schütten Aschenbecher hinterher. Warum werfen sie nicht mit den leeren Bierflaschen ? Ein Jüngling mit weißem Kragen zieht den Protestierenden davon. Hilft der Student dem Arbeiter ?

2.5.1970, Samstag, Tananarive

Langer Schlaf. Dann fahren wir mit unseren Freundinnen per Taxi nach Besarety, wo sie wohnen. Welche Überraschung ! Keine Blechhütten, keine Bretterverschläge. Keine streunenden Hunde zwischen Abfallhaufen. Keine zerlumpten Gestalten. Überall saubere braune Lehmziegel-Häuser mit spitzen Dächern. Viele Fensterläden und Türen sind frisch gestrichen. Es sieht ländlich aber sauber aus. An der Straße ab und zu Wasserpumpen, jede wohl für einen ganzen Block. Klein sind die Wohnräume. Ein Bett, ein schmaler Tisch, ein Sofa, ein Sessel, ein Stuhl. Dazwischen ist kaum Platz zum Stehen. An einem Nagel hinter der Tür hängt die Garderobe. Bunte Kalenderblätter verzieren die Wände. Dazwischen leere Zigarettenschachteln. An den Markenzeichen kann man die Herkunftsländer früherer Freunde erkennen; denn einige der Zigarettensorten gibt es auf Madagaskar nicht. Wegen Platzmangel verschlafen wir den Nachmittag zu viert in einem Bett.

 
   Eine kleine Nachtmusik              Militärmusikant

Nach Sonnenuntergang stürzen wir uns ins Nachtleben. Das besteht hauptsächlich aus der Kirmes, einem malegassischen Oktoberfest, das alljährlich zum 1. Mai von der Regierung organisiert wird. Zwischen Würfelbuden und Roulettständen befinden sich die Tanzhallen für die jungen Leute. Elektroguitarren, Trommeln und Zieharmonikas sorgen für Stimmung. Neben europäischen Schlagern sind es immer wieder die heißen Rhytmen der einheimischen Musik, die das Blut zum Kochen bringen. Jede Kapelle scheint die im Nachbarzelt an Lautstärke überbieten zu wollen. Auf der Tanzfläche drängt man sich dicht aneinander. Weiße Augäpfel in braunen Gesichtern glänzen bierselig im Halbdunkel. Trotz allem Gedrängel fällt niemand aus dem Rahmen. Man tritt einander auf die Füße und macht Witze darüber. Solche Tanzveranstaltungen dauern hier bis zum frühen Morgen. Uns zieht es schon bald nach Mitternacht in die Betten.

3.5.1970, Sonntag

Erste Durchfälle, der Eintrittspreis in die dritte Welt. Erbrechen. Ruhetag. Juliette. Mexaform-Tabletten.

4.5.1970, Montag

Tananarive liegt um und auf sieben Hügeln. Welche Gemeinsamkeit mit Rom ! Man merkt das besonders, wenn man von der deutschen Botschaft über einen der sieben Hügel zum Stadtzentrum gelangen will. Mit pfeifenden Lungen und weichen Knien kommt man auf der anderen Seite an.

Auf der höchsten Erhebung steht das Königsschloß. Es hat eine abenteuerliche Geschichte. Von dort oben regierten einst Könige und Königinnen mit unaussprechlich langen Namen. Einer mit dem kurzen Namen Andrianamporinimerina gab von dort den englischen und französischen Missionaren das Startzeichen zur Christianisierung des Landes. Schneller als die Pocken griff die neue Religion um sich. Zugleich kamen europäische Handwerkskünste und wissenschaftliche Gedanken ins Land. Ein Missionar übersetzte die Kreuzigungsgeschichte  und las sie dem König vor. Der zeigte sich tief beeindruckt. Er ließ sofort einige der frisch ausgebildeten Tischler rufen und befahl ihnen, einige große Holzkreuze anzufertigen – für die nächsten Hinrichtungen. Von dieser Methode hatte er noch nichts gehört.

Zur Zeit Napoleons kämpften England und Frankreich um die Herrschaft im Indischen Ozean. Auch am malegassischen Königshof intrigierten die Europäer. Das Christentum wurde wie so oft zum Hilfsmittel europäischer Großmachtpolitik. Dem dunklen Treiben setzte die Königin Ranavalona I. ein plötzliches Ende. Über Nacht wurde das Christentum verboten. Alle Europäer mußten die Insel verlassen.

Eine Malegassin namens Rasalama wurde zur ersten Märtyrerin. Am Rande des steilen Felsens vor dem Schloß sollte sie widerrufen. Sie kniete nieder und betete. Speere der Gerichtsdiener durchbohrten sie. Die Ratten am Boden des Abgrundes hatten einen satten Tag.

Alle erreichbaren Bibeln wurden verbrannt, alle Kirchen und Schulen zerstört. Christen, die nicht getötet wurden, gingen in den Untergrund. In Höhlen und anderen Verstecken wurden sie für bessere Zeiten konserviert. Einer lernte dabei angeblich das gesamte Neue Testament auswendig.

Vielleicht ist es eine Folge der Verfolgung, daß heute fast alle Malegassen gläubige katholische Christen sind. Ihre alten Götter leben trotzdem noch fort, sozusagen als Untergeister des einen Gottes oder: Vater, Sohn und heilige Geister, eine Multiplikation der Dreieinigkeit. Ist es ein Zeichen der Anerkennung für die Beharrlichkeit der malegassischen Christen, daß die Missionare heute die anderen Götter stillschweigend dulden ?

7.5.1970, Donnerstag

Gegen zehn Uhr verstauen wir mit einiger Mühe uns und unser Gepäck in einem Taxi. Ich muß Juliette versprechen, daß ich ihr von unterwegs ein Armband schicke, in das unsere Namen eingraviert sind. Sie wollte auch unbedingt ein Kind von mir haben. Ob ich es in der kurzen Zeit geschafft habe, werde ich wohl nie erfahren. Wer schnell reist, der kann ja nicht immer über die Schulter zurückschauen. Auf Madagaskar ist es eine große Ehre, wenn man von einem Europäer ein Kind bekommt. Man steigt dadurch im Ansehen um einige Stufen höher. Die Toleranz der Malegassen erlaubt es, daß Mischlinge als ganz normale Menschen angesehen werden. Sie sind hier auch nicht “Coloureds” (Farbige) wie in Südafrika. Man spricht von der Hautfarbe höchstens als “Café au Lait”, Kaffee mit Milch, und eine charmantere Bezeichnung dürfte kaum denkbar sein.

In einem Vorort ist die Bushaltestelle. Unser Gepäck wird auf dem Dach des Taxi-Brousse festgezurrt. Dann fahren wir auf kurvenreicher Straße, die aber immerhin noch asphaltiert ist, zum Itasy-See, 150 km westlich von Tanananarive (korrekt: Antananarivo). Tagesziel ist Ampefy, ein Dorf am Westufer des Sees, wo wir uns in ein Gartenhaus einmieten, das zu einem Hotel gehört. Das kostet pro Tag und Nase etwa DM 4,-. Ringsum ist Schwarzwald-Natur. Erloschene Vulkankegel ragen in den Himmel. Zweihundert Meter vor unserer Hütte rauscht ein Wasserfall über schwarze Felsbrocken herab. Vorn am Ufer quillt Mineralwasser aus dem Boden. Eine Pumpe preßt es in die Leitungsrohre des Hotels. Ob die Toilettenspülung deshalb nicht funktioniert, weil man mit dem kostbaren Wasser sparsam umgehen will? Übrigens rät man uns vom Baden im Itasy-See ab. Wir könnten die Krokodile stören. Oh Verzeihung ! Das war auch nicht beabsichtigt. Herrlich erfrischend ist die Hochland-Luft. Wir schlafen wie die jungen Götter

Max filmt am Itasy-See                                  

Vorher erkunden wir noch das Nachtleben von Ampefy. Die einzige Asphaltstraße muß man langsam entlanggehen, damit man das stille Dorf in der Dunkelheit nicht übersieht. Verschlafene Köter blinzeln in das Licht der Taschenlampe. Als einzige Fußgänger begegnen einem plattfüßige Enten, die wie englische Gardesoldaten mit den Sohlen über den Boden gleiten, gleichermaßen stolz und erhaben. Aus der Tür des Hotel Soa wirft eine Petroleumfunzel ihr schwaches Licht auf den Hühnerkot. Drinnen hocken ein paar Gestalten an wackligen Tischen, kauen Reis und Fisch und trinken Kaffee. Mit ihren Schultertüchern und Strohhüten sehen sie aus wie Mexikaner. Barfüßig, mit schlummerndem Kind im Umschlagtuch auf dem Rücken, serviert die minderjährige Wirtstochter. In einer Ecke verstecken sich kichernde Kinder, unbezähmbare Neugierde in den Augen. Kekse locken sie wieder hervor. Das Dunkel der Nacht ist voller Vogelstimmen und Sterne. Aus einem Kofferradio klingen betörend und verlockend die weichen Stimmen malegassischer Sängerinnen.

10.5.1970, Sonntag

Bis zu den Lili-Wasserfällen sind es mindestens zehn Kilometer. Der Feldweg führt über Berg und Tal. Ich verlaufe mich, weil die Bauern meine Fragen in sehr bruchstückhaftem Französisch nicht verstehen. Der Wasserfall mag in ihrer Sprache auch einen anderen Namen haben. Schließlich komme ich doch zum Ziel. Aber ich habe fast die doppelte Entfernung zurückgelegt. Meine Wasserflasche ist leer. Die Beine sind müde, die Augen von Landschaft und Wasserfall gesättigt. Ein Fischer kocht für mich über seinem Holzkohlenfeuer Kaffee. Dann sehe ich einen Malegassen, der sein DKW-Moped, Baujahr 1967, repariert. Für ein Trinkgeld darf ich auf dem Sozius nach Ampefy mitfahren. Es geht über Stock und Stein. Ich kann es kaum fassen, daß die kleine Maschine trotz doppelter Belastung noch steile Hänge hinaufklettert und bekomme mächtige Ehrfurcht vor dem “Made in Germany” unter dem Rücklicht. Malegassen am Wege biegen sich vor Lachen. Mit sonnenverbranntem Gesicht und dem flatternden Nackenschutz der Legionsmütze muß ich ein recht merkwürdiges Bild eines “Vazaha” (Fremdling) abgeben.

11.5.1970, Montag

Tagesziel ist eigentlich Antsirabe, 150 Km südlich an der Straße von Tananarive nach Fianarantsoa. Aber so weit kommen wir nicht. Von Ampefy nach Soavinandriana ist man mit dem Mini-Bus nur eine Stunde unterwegs. Dort bekommen wir nach langer Wartezeit  einen Taxi-Brousse, der nach Faratsiho fährt. Es wird eine wilde Schaukelei. Die Strecke ist nicht asphaltiert, und die Regenzeit hat überall auf der Piste tiefe Narben hinterlassen. Außerdem müssen einige der höchsten Bergpässe Madagaskars überwunden werden. Steile Abfahrten und Nadelörkurven oder die brüchigen Holzbrücken lenken manchmal vom Blick auf die Wellen der Bergkämme ab. Auch kann ich mich während der Galoppsprünge des Busses kaum festhalten, weil ich Tonbandgerät und Fotoapparat mit beiden Händen an mich presse. Auf dem Sitz über dem rechten Hinterrad werde ich auf- und ab geschleudert wie ein Jockey, und die Malegassen haben ihre helle Freude daran. Max und Werner geht es kaum besser. Erst bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Faratsiho auf halbem Wege nach Antsirabe. Werner ist ein Freund von Max, der sich uns während unserer Reise durch Madagaskar anschloß.
Mit der rauhen Fahrt versöhnt uns das Abendessen in einem kleinen Restaurant: viel Reis, viel Fleisch, viele Eier und viel Bier. In einem kleinen Hotel findet sich ein Zimmer für uns. Lehmwände, Strohdach, ein schiefer Tisch mit Kerze. Als Bett ein rechteckiger Holzrahmen auf den Bretter genagelt sind. Eine Strohmatte dient als Matratze. In unseren Schlafsäcken liegen Max und ich wegen der Nachtkälte dicht aneinander. Auch liegen wir auf einer schiefen Ebene und haben Furcht vor dem Sturz auf den Lehmboden. Werner schläft auf einem Strohsack, der einer Nachbildung der heute überwundenen Gebirge gleicht. Max versprüht einige Kubikzentimeter Insektenspray. So schlafen wir in Parfümdüften wie eine amerikanische Filmkönigin. Das alles für DM 4,- für uns drei.



                               Cowboys in Antsirabe

                      Max und Werner, rechts mein Rucksack

12.5.1970, Dienstag

Das Frühstück besteht für mich aus einem Schluck Wasser aus der Trinkflasche. Dann schultern wir unsere Ruck- und Seesäcke und stolpern zum Bus. Es ist sechs Uhr früh und kalt. Max sitzt neben dem Fahrer. Werner muß durchs Fenster einsteigen oder besser über die Seitenwand, da der Bus keine Fensterscheiben hat. Durch sein Gewicht und die Schüttelei des Fahrzeuges sinkt er zwischen den gedrängt sitzenden Fahrgästen hinab, bis seine Kehrseite festen Grund erreicht. Ich zwänge mich in eine der hinteren Ecken, wozu Kletterübungen auf der Gepäckleiter nötig sind. Ein Malegasse schüttet mir aus einer kleinen Kürbisflasche eine Kostprobe in die Hand – schwarzen Pfeffer. Dadurch bekommt der Staub, den die Hinterräder des Busses mir in den Mund wirbeln, einen reizvolleren Geschmack. Ein anderer Mitfahrer schenkt mir eine Plastiktüte, damit ich das Tonbandgerät besser schützen kann. Den Fotoapparat habe ich längst unter Hemd und Windjacke in Sicherheit gebracht. So geht es drei Stunden lang im Galopp durch die Schlaglöcher. Bei der Ankunft in Antsirabe gleiche ich mit Kapuze und roter Nase vermutlich einem eingestaubten Gartenzwerg.


Das Petit Casino ist sicher das fragwürdigste Hotel der Stadt. Aber für DM 5,- pro Tag gibt es sogar eine funktionierende Toilette und Dusche. Abends trifft sich das Jungvolk der Stadt zum Fußballspiel an Spielautomaten. Mädchen und Musikbox versetzen die französischen Betten in Schwingungen. It is a swinging hotel !

14.5.1970, Donnerstag

Abends gelingt es mir, bei einer einheimischen Familie zahlreiche Schallplatten mit malegassischer Musik per Tonbamd aufzunehmen. Max und Werner sind dabei. Wir benutzen die Gelegenheit zu einer ausgelassenen Tanzparty mit den noch sehr jungen Töchtern der Gastgeberin. Es sind Mischlingsmädchen, und man sieht es den glühenden Augen an, daß sie selten weiße Haut in greifbarer Nähe sehen. Die Gegenwart der Mutter hindert uns leider daran, den dringenden Bedürfnissen nachzukommen. Aber wir sind uns darüber einig , daß wir wohl bald verheiratet wären, wenn wir hier noch eine Weile blieben.


15.5.1970, Freitag

Josephine Ezeni stammt aus Fort Dauphin im Süden Madagaskars und gehört dem Stamm der Antanosi an. Die vergangenen zwei Nächte haben mir bewiesen, daß der französische Einfluß selbst im Süden Madagaskars noch deutlich zu fühlen ist. Den halben Tag verschlafe ich. Abends wird mit weichen Knien die Tanzparty von gestern wiederholt. Aber Mutti ist immer dabei !

16.5.1970, Samstag
Heute stehen wir früh auf. Antsiarabe wird zu teuer. Wir vergessen vor lauter Liebe zwar manchmal das Essen, aber nie das Trinken. Und Bier in großen Mengen verträgt die Reisekasse nicht auf die Dauer. Fleischermeister Nolli zeigt uns noch das bunte Treiben auf dem Schweine- und Rindermarkt von Antsirabe. Dann steigen wir gegen Mittag in einen Taxi-Brousse nach Betafo. Nach einer Stunde Fahrt auf der letzten Asphaltstraße für längere Zeit sind wir am Ziel. Hier beginnt eine der Pisten zur Westküste. Wir wollen dort bei Belo sur Tsiribihina und Marondava  die Gräber der Sakalaven- und Vezokönige besichtigen, die wegen ihrer pornografischen Holzstatuen bekannt sind. Viel Verkehr gibt es auf dieser Strecke nicht. Während der Regenzeit ist sie unpassierbar, und selbst in der Trockenzeit wird sie fast nur von Landrovern und Mercedes-Lastwagen befahren.
 Verkehr gibt es hier hauptsächlich auf dem Friedhof


Nach drei Stunden Wartezeit bekommen wir einen Taxi-Brousse nach Soavina, zwanzig Kilometer hinter Betafo. Der Bus ist auf der rauhen Bergpiste immerhin mehr als eine Stunde unterwegs. Aber die Schaukelei läßt sich noch ertragen.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit treffen wir in Soavina ein. Es ist ein winziges Nest ohne Hotel oder Restaurant. Aber wir haben Glück. Der Vize-Bürgermeister lädt uns ein, in seinem Haus zu übernachten. Er ist ein freundlicher alter Herr, dessen Kraushaar schon ergraut ist. In der Wohnstube steht ein breites Bett. Auf einem Lattenrost liegt ein Strohsack. Max und ich breiten unsere Schlafsäcke darauf aus. Werner schläft auf dem Fußboden. Als Nachtmahl gibt es viel Reis, der mit kleinen Steinen durchsetzt ist. Man setzt uns auch Rindfleisch und gebratenes Schweinefleisch vor – eine echte Delikatesse. Als Getränk gibt es das Wasser in dem der Reis gekocht wurde. Durch den Zusatz einer Art Petersilienblätter gewinnt es Geschmack. Anschließend zieht man den flachen Tisch ins Schlafzimmer, und die Familie verspeist was wir übriggelassen haben. Wir schämen uns; denn viel blieb nicht übrig, und die Leute werden wohl nun wegen uns hungrig ins Bett gehen.

Es dauert lange bis ich einschlafe. Ich muß immer noch daran denken, daß ich über zwei Jahre durch meine Arbeit in Südafrika dazu beigetragen habe ein System zu stützen, unter dem diese schlichten, freundlichen Menschen minderwertig sind, zu gering um auch nur mit ihnen zu sprechen.

17.5.1970, Sonntag

Die Frau unseres Gastgebers liegt zitternd im Bett – mit Sumpffieber. Wir geben ihr zwei Malaria-Tabletten aus der Reiseapotheke. Hoffentlich helfen sie.
Gegen neun Uhr höre ich Motorengebrumm, springe auf die Straße und stoppe den vermutlich einzigen Taxi-Brousse des Tages. Max zwingt schnell dem Vize-Bürgermeister etwas Geld auf als bescheidene Unkostendeckung . Er winkt uns noch lange nach. Bis Ankazomiriotra sind es nur 36 Km. Aber wir kommen weiter. Es ist eine Art Straßendorf und liegt verschlafen in der sonntäglichen Mittagshitze. Am Straßenrand wirft ein Haus einige Quadratmeter Schatten. Der Dorftrottel und eine Halbirre mit wirren Locken und schlenkernder Brust leisten uns Gesellschaft. Jemand serviert uns Kaffee.

             eine Halbirre..... 
                                                     
                                                                  Hundeliebe

Am frühen Nachmittag taucht ein Volkswagen-Bus auf. Mein Winken hat Erfolg. Auf der Blechbank im hinteren Teil des Wagens sind noch drei Plätze frei. Tagesziel des stämmigen Malegassen ist Miandrivazo. Bis dort sind es 168 Km. Das übertrifft unsere kühnsten Erwartungen. Aber wir schaffen pro Stunde höchstens 25 Km. Man kann die Piste nach deutschen Verhältnissen nur als Feldweg bezeichnen. Meistens ist der Untergrund felsig. Jeder Stoß wirkt deshalb besonders hart. Eine Kurve folgt der anderen. Auf dem Weg zur Küste müssen die Grenzgebirge des Hochlandes überwunden werden. Spät abends treffen wir in Miandrivazo ein.

Meine Unterhose hat an der Stelle des Steißbeines ein Loch – von Blut umrahmt. Gepäck, Kleidung und Haut sind von einer dicken braunen Staubschicht bedeckt. Eimerweise gieße ich im Hotel das Wasser des Mahajilo-Flusses über mich. Geld nahm uns der Fahrer des VW-Busses nicht ab.
Miandrivazo ist klein und langweilig. Ich messe nachts im Zimmer +28 Grad. Am Tag steigt die Temperatur sicher auf +40 Grad C. Dabei ist jetzt Winter und Trockenzeit.

20.5.1970, Mittwoch

Am Ufer des Mahajilo liegt das Boot. Es gehört einem pakistanischen Kaufmann. Es ist etwa 12 m lang und zwei Meter breit. Der Tiefgang ist gering. Es besteht aus Metallplatten. Ein Segeltuchdach schützt vor der Sonne. Den Außenbordmotor bedient ein Malegasse. Es werden noch einige Speiseölfässer verladen. Drei Frauen steigen zu. Dann hat uns der Fluß. Langsam schieben wir uns über das gelbe Wasser zwischen Sandbänken auf Kurs. Es weht eine erfrischende Brise. Die Fliegen scheinen am Ufer zurück zu bleiben.

Eine Flußfahrt hat ihren eigenen Reiz, besonders wenn sie in einem tropischen Land stattfindet und wenn man nur deutsche Binnengewässer gewöhnt ist. Da werden Jugendträume erfüllt. Man denkt an Tom Sawyer

        Am Ufer liegt das Boot.                       Bordküche

und Huckleberry Fynn und ist abenteuerdurstig. Gegen Durst haben wir übrigens Mineralwasser und Südfrüchte eingekauft. Den Mahajilo geht es langsam hinab nach Süden. Zeit wird unbedeutend. Sachte gleitet das Boot und wiegt sich auf Strudeln und schnellen Strömungen. Rechts in der Ferne lassen sich die Steilhänge des Plateau du Bemaraha durch das Fernglas deutlich erkennen. Auch links steigen im Hintergrund Berge an. Dazwischen liegt Schwemmlandschaft. Im Schatten der Palmen verstecken sich verträumt die Strohhütten der Malegassen. Auf treibenden Inseln aus Gestrüpp und Bäumen stehen einbeinig regungslos Reiher und andere Vögel und warten auf Fische.

Flora und Fauna Madagaskars unterscheiden sich fast völlig von allen anderen, und man muß Experten sein um sich auszukennen. Es ist ein kleiner Kontinent für sich, ein Überrest des vorgeschichtlichen Gondwanalandes, auf dem sich Überbleibsel urzeitlicher Pflanzen und Tiere zu neuen und bizarren Arten entwickelten.

Bei Tanambao vereinigt sich der Mahajilo mit dem Mania zum Tsiribihina. In Schlangenlinien sucht er sich den Weg zum Kanal von Mozambique. Eine Zeitlang tuckern wir am Fuße der Bamaraha-Hänge entlang. Schließlich kommt der Durchbruch. Bis zu 200 m türmen sich die Felsen an beiden Ufern auf. Dichter wird der Regenwald. Reißender wird die Strömung. Langsam versinkt die Sonne hinter den Berggipfeln. Um mehrere Kurven schlingt sich die Schlucht in ihrer hinreißend schönen Unberührtheit. Hinter dunklen Wipfeln taucht der Vollmond auf. Hält der Rhein mit seinen Ritterburgen dem Vergleich noch stand ? Aus dem Uferdickicht klingen Urwaldschreie. Mischt sich zwischen die Vogelstimmen nicht das Weinen der Lemuren ? Einmal springt lautlos ein Schatten von einem Baum, hangelt blitzflink in den nächsten. Tausend Augen beobachten uns in der Einsamkeit. Am Ende der Schlucht liegt Begidro. Benommen steigen wir an Land. Bei einem französischen Tabakpflanzer finden wir Gastfreundschaft und Unterkunft.


24.5.1970, Sonntag

Es gab einmal eine Autofähre, mit der man von Belo über den Tsiribihina fahren konnte. Inzwischen ist Madagaskar aber seit zehn Jahren eine unabhängige Republik, und die Überreste der Fähre rosten am Ufer. Es gibt keine Europäer mehr, die das Nagen des Zahnes der Zeit aufhalten könnten. So lassen wir uns und unser Gepäck im Einbaum mit Ausleger über das Wasser rudern. Drüben beginnt die Piste nach Marondave. Für die 106 Km dorthin brauchen wir nur zweieinhalb Stunden. Im Hotel Plage finden wir eine preiswerte Unterkunft für DM 5,- pro Tag. Nach deutschen Verhältnissen ist es nur ein größeres Gartenhaus. Durch die Strohwände der Zimmer weht eine frische Meeresbrise. Draußen rollen zwischen Bunen die Wellen des Kanals von Mozambique den weißen Strand herauf.

Wir machen gleich nach der Ankunft die Bekanntschaft von vier netten und sehr jungen Sakalaven-Mädchen. Sie haben beim Baden nur Höschen an, und wir machen uns einen Sport daraus, ihnen auch die noch in der schäumenden Brandung auszuziehen. Die Begrüßungsküsse in Marondave schmecken nach Salz, Sand und Sonne und nach sehr viel Liebe. Später stehen wir noch einmal auf um den Sonnenuntergang und ein kühles Bier zu genießen.

25.5.1970, Montag

Ruhetag, Strandleben, Stadtbummel (unwichtig), Liebe (wichtig).

26.5.1970, Dienstag

Zu neuen Höhepunkten lockt ein neuer Tag ! Pünktlich zum Sonnenaufgang steht ein Taxi vor der Tür. Heute machen wir einen Ausflug zu den Gräbern der Vezo-Könige. Es gibt davon in der Umgebung von Marondave eine ganze Menge. Aber Kenner bevorzugen die, die am schwersten zu erreichen sind. Unser Fahrer kennt sich gut aus. Zunächst fahren wir auf der Piste, die wir gestern kamen, ein Stück zurück. Dann zweigt links ein Pfad ab. In Schlangenlinien zieht er sich durch das undurchdringliche Dickicht. Auf Lichtungen stehen manchmal ein paar Hütten. Es geht quer über den Dorfplatz, und Hühner und Hunde springen erschreckt zur Seite. Ab und zu laufen wir Gefahr mit unserem 2CV auf den steinharten Stümpfen von Termitenhügeln aufzusitzen, die mitten auf dem Weg stehen. Ein flacher See im Wald ist von einem dichten Teppich himmelblauer Wasserrosen überzogen. Im Uferschlamm bleiben wir fast stecken. Schließlich will der Wagen im zerfurchten Gelände nicht mehr weiter. Wir steigen aus und legen die letzten 200 m zu Fuß zurück. Hinter einer Sanddüne fällt das Buschland zur Küste hin ab. Auf der Düne stehen etwa dreißig bis vierzig Gräber. Wir sind am Ziel.

Die Vezos vergraben ihre Toten in der Erde. Es gibt keinen Grabhügel. Um das Grab errichtet man zwischen vier oder sechs Pfosten einen Lattenzaun. Jeden Pfosten krönt eine Holzschnitzarbeit. Im Durchschnitt sind die Figurengruppen etwa einen halben Meter hoch. Meist ist das Holz bereits rissig und verwittert. Aber oft hat sich in den Augen und an anderen Körperstellen noch die ursprüngliche Farbe gehalten. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, daß die Vezos ein ganz lustiges Völkchen sein müssen. Einige der Liebesstellungen stellen wohl nur unpraktizierbare Wunschbilder dar. Aber sind nicht die Geister der toten Könige gewichtslos ? Wachsen vielleicht bei den Vezos im Grabe nicht nur die Haare und Fingernägel weiter ? Sicher sind es keine frommen Wünsche, die den Toten mit auf den Weg gegeben werden. Sterben kann für diese Menschen nichts Schreckliches sein. Sind es nicht Ursymbole des Lebens, die sie auf ihre Gräber stellen ? In einem der Gräber steht ein Tisch. Er ist gedeckt mit Plastiktuch, mit Gläsern, mit Tellern und Besteck. Selbst die Blumenvase fehlt nicht. Sicher können die Toten im Jenseits nicht nur von der Liebe leben. Seltsam und fehl am Platz muten die Steinkreuze in manchen der Einfriedungen an. Christ sein ist eine Mode der modernen Zeit. An der Heilslehre anerkennt ein frommer Vezo-König sicher nur das Paradies, aber ohne Engelsschwingen und Harfen. Er beschäftigt sich im Jenseits mit handfesteren Dingen. Max schlägt als Grabinschrift vor: „Er war ein großer Figger vor dem Herrn.“ Das ist die schweizer Schreibweise.


      Er ist beschnitten !         Französischer Missionar ?

Zur Besichtigung der zweiten Grabgruppe müssen wir zur Hauptstraße zurück. Weiter geht es in Richtung Belo, dann wieder auf schlechtem Pfad viele Kilometer in den Wald. In der Nähe der Küste öffnet sich der Wald zu einer flachen kilometerbreiten Ebene. Ist es ein ausgetrockneter See oder Teil eines versickerten Flusses ? Ein Stück können wir noch auf der rissigen Erdkruste fahren. Dann wird der Boden dunkler. Wir krempeln die Hosenbeine hoch, lassen die Schuhe im Auto und stampfen hinter unserem Führer durch den Schlamm. Unter den Füßen bricht die dünne Kruste, und man versinkt bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln. An besonders feuchten Stellen steckt man unversehens bis zum Knie im Morast. Bis zu den Dünen auf der anderen Seite legen wir eine Strecke von ein bis zwei Kilometern zurück geröstet von der Tropensonne. Man muß vorsichtig treten ; denn überall laufen lautlos Strandkrabben herum, die scharfen Scheren in Angriffsstellung. Sie sind oft so groß wie eine Faust, und ein Biß wäre sicher nicht nur schmerzhaft, sondern auch blutig. Auch spitze Dornen herabgefallener Äste sind eine Gefahr. Ich beneide unseren Führer um die Hornhaut unter seinen Füßen.
Aber der Anblick der Gräber belohnt uns für den Matschmarsch. Zwei Filme verknipse ich bis die interessantesten Figurengruppen dokumentarisch mit Kodakfarben erfaßt sind. Nach der Rückfahrt ins Hotel folgt die Praxis der Theorie.

3.6.1970, Mittwoch (Tagebuch von Max)

„Nach der Ankunft in Mananjary (Ostküste) übernachten wir ohne Hütte über dem Kopf einfach unter den Bäumen. In der Nähe des Schlafplatzes hat sich zwischen den Dünen ein natürliches Schwimmbad gebildet, und dort baden zwei nackte Mädchen. Manfred, hilfsbereit wie er ist, eilt sofort mit einem Frottiertuch unter dem Arm ans Ufer und bietet sich den Naturschönheiten als Abtrockner an. Die lehnen ab. Aber auf diese Art bekommt Manfred bei einem der Mädchen eine billige Unterkunft. Er zieht in ihre Schilfhütte, die in der etwa 1.5 Km entfernten Eingeborenensiedlung am Strand liegt. Werner und ich ziehen es vor im Camp zu bleiben.

Einmal in der Nacht wird das gleichmäßige, man möchte fast sagen melodische, Rauschen der 300 m entfernten Brandung und das feine Säuseln des Windes im Blätterwerk der Bäume vom schrillen Gackern und Krähen eines Huhnes durchdrungen, das wahrscheinlich nach einem schlechten Alptraum von einem Baum gefallen ist. Kreischend und flügelschlagend säckelt es kreuz und quer durchs Camp. Da kriechen wir unwillkürlich ganz in die Schlafsäcke und halten die Öffnung von innen mit den Händen zu.“

4.6.1970, Donnerstag

„An disem Morgen stehe ich vor Sonnenaufgang auf und wandere mit Werner den Strand entlang. Schon von weitem erblicken wir die Schilfhütten-Siedlung, in der der Manfred in Hütte Nr. 62 D 4 mit seiner Geliebten wohnt. Im Glanz der aufgehenden Sonne sehen wir Hunderte von Menschen, die am Strand hocken und deren Silhuetten sich schwarz vom hellen Hintergrund abheben. Es ist das größte Scheißhaus, das ich je gesehen habe. Wir ziehen es vor, Manfreds Hütte von der Straßenseite zu erreichen. Vor der Hütte ist ein kleiner Menschenauflauf. Etwa dreißig Leute, groß und klein, haben einen Halbkreis gebildet, und schon von weitem sehen wir, daß die Versammlung heiteren Charakters ist. Die Leute sind am Kichern, und ab und zu tritt jemand rückwärts aus dem Menschenspalier, um sich so richtig nach Herzenslust krümmen und kugeln zu können vor Lachen. Der Halbkreis öffnet sich um uns zwei Fremdlinge durchzulassen. Unseren Blicken präsentiert sich die seltsame Gestalt von Manfred, der da halbnackt mit eingeseiftem Kopfe vor einer zerbeulten Waschschüssel steht und sich mit Hilfe eines Taschenspiegels orientiert, an welcher Stelle im Gesicht er den Rasierapparat durchziehen muß.“

So weit die Aufzeichnungen von Max. Meine neue Freundin heißt Christine. Sie hat eine wahrhaft christliche Einstellung; denn sie liegt am Liebsten auf dem Kreuz. Wir lieben uns so gut und so oft wie möglich; denn wir wissen, daß wir wenig Zeit haben. An jeder unserer Bewegungen nimmt die halbe Dorfjugend Anteil; denn die Wände der Strohhütte sind dünn und haben viele Ritzen. Mittags gibt es Reis mit Reiswasser und aromatischen grünen Blättern. Wir kauern auf Schilfmatten und essen aus einem Napf. Die besten Blätter schiebt mir Christine mit dem Zeigefinger zu. Von der Sonne sieht man nur vereinzelte Strahlen, weil sich in beiden Hütteneingängen die Menschen drängen. Ich bin sicher der erste Europäer, der hier ein Schauessen vollzieht - und nicht nur das.

7.6.1970, Sonntag, Tananarive

Trampversuche am Straßenrand in Richtung Tamatave erweisen sich mangels Verkehr als sinnlos. So besteigen wir gegen elf Uhr einen Zug zur Küste. Auf dem Bahnsteig gibt es vorher noch ein überraschendes Wiedersehen. Mary-Nety, die Lehrerin, die ich im vergangenen Jahr in Perinet kennenlernte, läuft mir in die Arme. Eine durchtanzte Nacht taucht wieder aus der Erinnerung auf. Ich hatte auf einem Tisch unter einer Hoteltreppe mein Lager aufgeschlagen. Mary-Nety nahm mich aus Mitleid in ihre Hütte mit. Und ich muß an die Ratten denken, die nachts über unsere Bettdecke liefen. Eine hatte ich mit einem Fußtritt gegen eine Schranktür katapultiert. Da tanzten sie dann unter dem Bett ihre Rattentänze weiter, machten an den Schilfwänden Rutschpartien und spielten Blechmusik mit den Küchengeräten. Als Mary-Nety einmal vor die Tür ging, da machten sie im Vollmondlicht Männchen auf der Türschwelle und sahen ihr zu. Unser Willkommenskuß ist zugleich ein Abschlußpunkt für ein kurzes Kapitel. Ein anderer Freier wartet bereits im Hintergrund.

                                   Mary-Nety
Landschaftlich ist die Fahrt nach Tamatave mindestens so lohnend wie eine Fahrt nach Manakara. Auch hier schlängelt sich die Bahn an den Hängen eines Flußtales entlang. Man hat immer wieder den Ausblick auf Stromschnellen und steile Wasserfälle, die den Fluß unvermittelt viele Meter tiefer weiterfließen lassen. Ringsum wuchern die Wälder. Es ist eine wahrhaft explodierende Natur.

An Haltestellen wird der Zug stets von der gesamten Dorfbevölkerung begrüßt. Alles was läuft, fliegt, kriecht, spricht, singt, kräht und bellt ist vollzählig erschienen. Durch Türen und Fenster werden gegen Geldstücke Bananen, Mandarinen, gekochter Maniok, Gebäck, harte Eier und Naschereien ausgetauscht. Wenn Begrüßungs- und Abschiedszeremonien lange genug gedauert haben, dann erklingt die Trillerpfeife des Bahnhofsvorstehers, und das Bähnlein rollt weiter bergab.  Auf diese Art kommt man dann abends in Tamatave an.

8.6. bis 12.6.1970, Freitag, Tamatave

Wie üblich übernachten wir im billigsten Hotel der Stadt. Dafür darf ich mir wieder mit Max ein Bett teilen. Hinter einer halbhohen Pappwand schnarchen, röcheln, spucken und brunzen die Wirtsleute, und einmal versetzen sie das knarrende Bett in rhytmische Bewegungen. Dann wieder muß das plärrende Baby auf den Nachtopf gesetzt werden. Die Kakerlaken, die nach der Nahrungssuche des Tages müde und satt in den Mauerecken hocken, scheint der Trubel nicht zu stören. Max aber zieht mit Schlafsack und Regenponcho auf den Betonstreifen neben dem Haus. Dort atmet er die aromatischen Düfte eines im Feuer schwelenden Komposthaufens, und wenn der Wind dreht, weht ihm ein feiner Regen ins Gesicht. Mich läßt schließlich das Bellen eines Hundes einschlafen, das regelmäßig wie eine Standuhr klingt.
Tamatave macht einen modernen und ordentlichen Eindruck. Bröckelnde Fassaden und Gärten voll Unkraut deuten trotzdem darauf hin, daß seit dem Auszug der Franzosen ein allgemeiner Stillstand eingetreten ist. Prunkstück der Stadt ist eine Palmenallee, die schnurgerade zur Uferpromenade führt. In dieser Allee lerne ich am dritten Abend Bertine kennen. Wir finden gleich Gefallen an einander, und in dem Pfahlbauhaus, das in der Nähe unseres Hotels auf morschen Stelzen im Winde schwankt, stelle ich fest, daß sie von allen Mädchen, die ich kenne, den hübschesten und griffigsten Körper hat. Max nimmt sich im Hotel ihrer Freundin an. So verbringe ich meine letzten Tage auf Madagaskar preiswert in Vollpension mit individueller Betreuung. Bertine setzt mir Berge von Reis vor. Dazu gibt es Eier und Fleisch. Unvergeßlich werden mir ihre Pommes Frits bleiben.

13.6.1970, Samstag

Im Hafen liegt die „Pierre Loti“, ein französisches Schiff aus Marseille. Über die Insel Reunion geht es nach Mauritius, dann per Flugzeug nach Bombay. Gegen Mitternacht schiebt sich der große Kahn langsam von der Pier ab und schaukelt gemächlich aufs offene Meer. Die Wipfel der Palmen winken ein letztes „Veluma tubko“ während die Lichter von Tamatave immer kleiner und schwächer werden. Es ist ein Abschied der schwer fällt. Werde ich die große rote Insel je wiedersehen ? „Au revoir, Madagaskar ! Malala ti quianau. Je tu n’oublie pas !!!“

PS.: Wir sind fast dreißig Jahre alt. Aids war damals noch nicht bekannt.
       Peniscillin gab es schon.
                             über den Tsiribihina Fluß

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